Leider etwas zupha(e)llig
George-Arthur Goldschmidt  
 Als Freud das Meer sah

Aus dem Französischen von Birgit Große. Zürich: Ammann 1999. 184 Seiten. 38 Mark

Eine Rezension von Marc Neller

Das Unbewußte Freuds ist ein Ort, der den bewußten Zugriff auf sich nicht gewährt, vor allem nicht durch die träge Sprachlichkeit.

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Georges Arthur Goldschmidt, als deutsch- und französischsprachiger Autor und Übersetzer von Goethe, Kafka, Nietzsche u.a. tätig, vertritt die Ansicht, Freud habe auf seiner Suche die deutsche Sprache nur zum Sprechen bringen und sie für sich arbeiten lassen müssen. Der Sprache gegenüber wachsam bleiben, ihr zuhören, sie beim Wort nehmen, Zwischenräume zwischen dem Deutschen und dem Französischen überrumpeln, sie auf das Unhörbare hin abhören, ist auch Goldschmidts Anliegen, denn nur dort ist Sprache frei vom Ballast des Alltagsgebrauchs: "Alle Sprachen folgen ihrem eigenen Faden, ihren speziellen Neigungen, sie gleiten Schritt für Schritt an sich selbst entlang, aber sie sind so sehr an sich gewöhnt, daß sie sich selbst nicht mehr reden hören, sie überhören sich.".

Interessant würde es dort, wo sich Dinge aus der einen Sprache nicht mehr deckungsgleich in die andere übersetzen ließen, wo leichte Verschiebungen entstünden, wo die Sprachen "stumm mit Verschweigen" drohten. Auch dieser Gedanke dürfte kaum ernsthaft bezweifelt werden. Ebensowenig, daß Sprache, in der das Denken seinen Platz hat, Gedanken nicht mit einem Schlag in seiner Totalität darstellen kann. Sie muß ihn, das wußte schon Foucault, stückweise in einer linearen Ordnung anlegen. Nur ist diese lineare Ordnung der Repräsentation fremd.

Das Mittel, räumliche Ordnung in der Zeit herzustellen, ist die Grammatik. Die Sprache funktioniert horizontal, als sichtbare Oberfläche, an welche "niemals etwas so […] dringt wie es im Grunde war. (hier liegt vielleicht das ganze Problem der Psychoanalyse). Die Freudschen Schriften reden letztlich über das, von dem sie abstammen, aber sie sind es nicht." Ihr Ausdruck ist einerseits nur die Übersetzung, eine Ableitung des Eindrucks. An dieser Stelle fügt Goldschmidt die Wiederholung, die Wiederkehr des Verdrängten ein: Das nicht Artikulierte, das wieder hinuntersinkt, um neuen Anlauf zu nehmen. Die Grammatik treibt ihn davon, als stützender Pfeiler seiner Ausführungen bleibt der betont etymologisch ausgelegte Aspekt der Psychoanalyse.

Die Beweisführung der essayistischen Untersuchung ist nicht immer nachvollziehbar. Kann man einer Untersuchung der Sprache die Methodik Freuds zugrunde legen – unter vorgeblicher Vernachlässigung seiner analytischen Ergebnisse – soll der Verdacht rein empirisch gewonnener Erkenntnis vermieden werden? Sicherlich liegt der Haken nicht im Detail, die vorgebrachten Beispiele sind plausibel und beweisbar, doch weckt die axiomgleiche Rolle Freudscher Hypothesen Zweifel. Ein derart komplexes und hochbrisantes politisches Thema wie die Shoah allein von einem etymologischen Standpunkt aus zu begründen, könnte den Verdacht willkürlichen Vorgehens nahelegen.

Möglicherweise löst sich Goldschmidt deswegen von der selbstauferlegten Vorgabe, allein die Freudsche Methode der Sprachuntersuchung zu adaptieren. Die Methode über Bord geworfen, bricht er mit dem Abschnitt Geständnis auf der Zungenspitze den Fluß des Buches, wird uferlos. Um das Kapitel dennoch einfügen zu können, wird die Aussage verknappt: Der vom Autor vorgetragene Ansatz zielt auf die Verflechtung des Vaterkomplexes und der Verdrängung eines Individuums ab. Auch wenn er das "Kollektive unbewußte Verdrängte" miteinbezieht, bleibt zum Beispiel das Phänomen 'Masse', welches die einzelne Subjektivität aufzuheben imstande ist, unberücksichtigt. Es soll nicht der Eindruck entstehen, es handle sich um ein schlechtes Buch, es birgt durchaus erhellende Passagen und gelungene metaphorische Darstellungen sprachlicher Eigenarten. Den Vorzügen zum Trotz, das Fundament wirkt stellenweise leider etwas zupha(e)llig.

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© Marc Neller, RezenSöhnchen 24 (Juli 1999) & forum-buchkritik