'Green Man effect' oder: Aus der Bedrängnis schreiben
Anne Duden   Zungengewahrsam
Kleine Schriften zur Poetik und zur Kunst

Köln: Kiepenheuer & Witsch 1999. 143 Seiten, 38 Mark

Eine Rezension von Marc Neller

Die Sprache ging in die Zunge, um Schrift zu werden. Und dort ist die Mutter der Zunge, 'mother tongue', gut aufgehoben, denn die Zunge schläft nie, besonders wach ist sie "im Schlaf oder zu nachtschlafener Zeit".

Intelligenz und Sprache, die Intelligenz der Sprache – und damit der Prozess des Schreibens – entstehen für Anne Duden in den Phasen des Übergangs, wo sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einem hochvitalen Amalgam vermengen, die Kluft zwischen getrennten Polen überbrücken und Zeit- wie Bedeutungsknoten bilden: "Das erste Kapitel des Schreibens beginnt also zwischen grellstem Licht und tiefster Dunkelheit". Die Geschichte der Worte setzt ein in der "Verlorenheit, sie setzt auf das Verlorene. Auf das Wissen, daß nichts mehr zu gewinnen ist, aber alles dableibt, versteckt in Worten und Bildern, die vor allem die einstigen Gefühle, die Empfindungen, die Blicke, die Potenzen der Welt aufbewahren bis zum Tag ihrer Übersetzung."

Dieser Transformierungsprozess kann unter Umständen sehr lange Zeit dauern. Er lauert oder liegt brach: Empfundenes und Gedachtes ist häufig vorübergehend nur "denkbar, aber nicht umsetzbar". Also wird "gesammelt, geschluckt". Schreiben, ohne noch je geschrieben zu haben, so lange es sich in einem vorbereitet, ist "Schlucken. Oft genug auch ein Hinunterwürgen, weil etwas nach außen hin abgewürgt werden mußte". Oder weil die Zunge augenblicklich nicht verfügbar ist, von milden Umständen oder der Wucht des Moments in Gewahrsam genommen. Auch Duden verschlägt es mitunter die Sprache. Angesichts der schwierigen Rolle Deutschlands zum Beispiel: Der nie vollständig gelingende Versuch der Identifikation als Deutsche entblößt, ihre Narben – eine 'Operation', die schon im Judasschaf (1985) thematisiert wird

Einer unheimlichen, unbewusst stets präsenten Gewalt zu trotzen, gelingt nur dann, wenn ihr eine eigene, ebenbürtige Macht entgegenstellt werden kann. Ein solche Macht kann und muss das Schreiben sein: Schreiben ist "absolut, etwas an sich Totalitäres." Es bahnt sich seinen Weg, meistens ungefragt, urplötzlich. Überfallartig bricht "ein rasendes Herzklopfen" aus, das sich häufig nicht orten lässt. Aus der Dunkelheit des eigenen Herzens "oder dem eines anderen Wesens oder Unwesens" schlägt es, dass Ohren und Augen zu verschließen, nicht möglich ist. Das Pochen ist ein Zeichen des Beginns, es verlangt nach Ausschließlichkeit, "die vollkommene, wild entschlossene Hingebung und Versenkung, es verlangt einen mit Haut und Haar, ungeteilt." Der Prozess des Schreibens ist gleichermaßen konstruktiv und zerstörerisch; er ist "Enthauptung der gewalttätigen Ordnungen und Hierarchien des Tages, Entfesselung, Lösung der Bindungen" – nicht nur ein Drahtseilakt zwischen Extremen, sondern auch eine positive Form des Zugrundegehens. Denn am Ende wartet ein Boden, der "Boden der Tatsachen".

Nun handelt nur der erste von zwei Teilen, ebenso wie der gesamte Band mit Zungengewahrsam überschrieben, explizit von Dudens Schreiben. Der zweite Teil setzt sich aus 'meditativen' Versenkungen der Autorin in gotische Kathedralen und bildende Kunst, vor allem aber in die Malerei zusammen. Die luziden Betrachtungen und Gedanken über Gemälde von der italienischen Renaissance bis hin zu den Werken Paul Cézannes, Clea Wallis' oder Arnold Böcklins sind von der gleichen Kraft und schneidenden Härte der Klarheit wie zuvor die "Erkundungen einer Schreibexistenz". Auch die für Dudens Schreiben ungewöhnlichen, zu Beginn beinahe märchenhaften Züge des "Englischen Grußes" können darüber nicht hinwegtäuschen.

Ohne Bruch, wie Unter einem Dach, sind die elf Kapitel zu einem kompakten Band verdichtet. Das mag auch an der Plastizität der Darstellung liegen, vor allem aber an der offenen, gleichnishaften Mehrstimmigkeit der Wortkompositionen. Die beschriebenen Gemälde sind durchaus für sich und als solche ernstgenommene, eigenständige Gegenstände der Erkundung; Anne Duden scheint kein noch so dezentes Detail zu entgehen. Die Proportionen der Ausführungen evozieren jedoch den Eindruck, dass es sich zudem immer um Projektionen, sich zurückfindende Metaphern für das Werden und Wirken von Literatur handelt: Der Green Man-Schlussstein in den englischen Kathedralen, "mit dem nackten Auge gar nicht oder kaum zu erkennen" fügt sich als kaum erkennbares Symbol für das Unbewußte, als Ursprung in das Motiv-Mosaik des Unbewußten ein: in das Gewölbe, in dem sich die Green Men versteckt halten, blickt man "wie in ein in die Tiefe gerichtetes Kaleidoskop". Ferngläser nutzen nur dann etwas, wenn der Stein, "was selten genug vorkommt, voll be- und ausgeleuchtet ist."

Der Green Man, im Französischen als Tête de feuilles oder in Deutschland als Blattmaske bezeichnet, ist ein männliches Medusenhaupt. Und ein Nicht-Zu-Verdrängendes: mit dem Wildwuchs des Laubwerks – dem Green Man kommt, aus Ohren, Nasenlöchern und sogar aus den Augen "die Vegetation hoch".

Die Herkunft der Blattmaske an ihre kulturellen Wurzeln zurückzuverfolgen, ist bislang nicht eindeutig möglich gewesen. Sicher hingegen ist, dass Anne Duden das alte Motiv mit einer neuen Bedeutungsebene auflädt: Neben dem aus der Gotik tradierten Fruchtbarkeitssinnbild und dem heidnisch-keltischen Symbol der Baumverehrung steht der Green Man für die Kraft der Nachtintelligenz, die sich im Schreiben veräußern kann: Alles, was "niedergetrampelt und aufgebraucht" worden ist, wird in den Gotteshäusern "nach der Natur neu erschaffen, wiederhergestellt und darüber hinaus noch veredelt". Nachdem sie in den sauren Apfel gebissen hat, tastet sich Anne Duden mit der Zunge vorwärts, wird gewahr. Sie wechselt nur scheinbar das Metier. Denn es ist, was es ist: Kunst.

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© Marc Neller, RezenSöhnchen 25 (Dezember 1999) & forum-buchkritik