Fahren Sie bloß nicht nach Berlin…

Marcus Jensen 

 
 Red Rain

Frankfurt a.M.: Frankfurter Verlagsanstalt 1999, 172 Seiten

Eine Rezension von Cordula Natusch

"So seh ich aus. Dunkle Junkie-Falten, Mundwinkel wie Senkbleie. Unruhige Backen mit Frustgräben zwischen den Wülsten, Lederhaut, Kraterporen, bah." Es ist nicht gerade eine Vorzeige-Gestalt, die nach Berlin kommt, um an der offiziellen Jahrtausendfeier des Berliner Senats teilzunehmen. Aber weil zur Sylvesternacht ’99 angeblich alle Schamanen und sonstigen weisen Männer weltweit ausgebucht sind, hat Regina, Deutschlands jüngste Staatssekretärin und Organisatorin der Party, kurzerhand den Ich-Erzähler, ihren Ex-Freund, engagiert, der nun verkleidet als indianischer Heiler Zuversicht und Sinn unter den panischen Regierungsangehörigen verbreiten soll. Die Rolle ist dem Antihelden aus Marcus Jensens Erstlingsroman wie auf den Leib geschneidert. Er hat nicht nur lange, schwarzgefärbte Haare, sondern trägt auch die komplette Rothaut Ausstattung mit sich herum: Farbe für das Gesicht, eine Büffellederhose, kleine Fläschchen mit wundersamen Tinkturen und eine Kassette mit echter "Sun Dance"-Musik zur Einstimmung, um sich als authentischer Stammesangehöriger zu fühlen. Und so rast der Loser aus einer westdeutschen Kleinstadt nach seiner Verwandlung zum Medizinmann "Red Rain" in Begleitung von drei Bodyguards ineiner Staatskarosse durch das nächtliche Berlin: eine Fahrt, die allmählich zum Horrortrip ausartet. Mit sichtlichem Vergnügen malt der Autor das Bild einer ohnehin schon durchgeknallten Hauptstadt, die in den letzten Stunden des alten Jahrhunderts vollends im Chaos versinkt. In U-Bahnhöfen tummeln sich Freizeit-Krieger mit Farbkanonen, die "in Frieden Krieg spielen" wollen.

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Den Flughafen Tempelhof hat die Stadt Berlin aus Geldmangel und Unwissenheit gleich zweimal vermietet: an Star Trek- und Star Wars- Anhänger, die nun kräftig aufeinander einschimpfen und einprügeln. Im Fernsehen läuft die "Endzeit-Show" mit einem "Wettangsthaben": Wer von den Kandidaten mit der absurdesten Furcht aufwarten kann, gewinnt. Und über allem schwebt die Drohung der Terrorgruppe NOX IRAE, um Mitternacht eine Atombombe über dem Alex hochgehen zu lassen! Der Ich-Erzähler berichtet nicht nur von seiner rasanten Fahrt durch die Stadt, sondern gibt auch bissige und politisch ganz und gar nicht korrekte Kommentare zu dem ab, was um ihn herum geschieht. Er spart bei seiner Kritik auch nicht die Siebziger und Achtziger oder gar zukünftige Generationen aus.

Zugleich wird die Fahrt für den Erzähler eine Reise in die Vergangenheit. Immer wieder kreisen seine Gedanken um Regina, dem "süßen, kleinen Monster", das irgendwie die Fäden all der grotesken Ereignisse in den Händen zu halten scheint. Der Witz der Handlung setzt sich im souveränen Umgang Jensens mit der Sprache fort. überspitzte Ausdrücke, Elemente aus der Comicsprache, lautliche Nachahmungen und nicht zuletzt die Neigung des Erzählers (und des Autors) zu Anagrammen und anderen Wortspielereien nehmen das Tempo des Geschehens auf und machen den Roman auch sprachlich zu einem schnellen und abwechslungsreichen Lesevergnügen. Marcus Jensen hat eine hochamüsante, bitterböse Satire über die Nacht der Nächte geschrieben, wie sie sich hoffentlich nicht ereignen wird.

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© Cordula Natusch, RezenSöhnchen 25 (Dezember 1999) & forum-buchkritik