Persönlichkeitspsychologie ohne Erklärungen
Emmanuel Carrère  
 Amok

Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag 2001. 191 Seiten, 36 Mark

Eine Rezension von Tanja Eisenach

Jean-Claude Romand hat alles, was man sich nur wünschen kann: die fünftbeste Abschlussprüfung in Medizin an der Universität Lyon, eine Stelle bei der Weltgesundheitsorganisation in Genf, wo er für die Entwicklung neuer Medikamente zuständig ist, eine verständnisvolle Frau, zwei Kinder, eine Geliebte und einen hochrangigen Freundeskreis. Ein rundum glücklicher Mensch also – glauben zumindest alle, die ihn kennen, einschließlich der engsten Familie. Doch der Schein trügt: Was die Umwelt für das wahre Ich Jean-Claude Romands hält, ist das Ergebnis eines Jahre langen, auf Lügengebäuden und exzessiver Geheimhaltung basierenden (Selbst-)Betrugs; es ist ein Schein-Ich, das ein Doppelleben führt.

Denn die Wahrheit ist niederschmetternd: Tatsächlich hat Romand das Medizinstudium im zweiten Semester abgebrochen – nie erlangte er den Doktortitel, und auch sonst besitzt er weder eine abgeschlossene Ausbildung, noch war er jemals bei der Weltgesundheitsorganisation beschäftigt. 18 Jahre lang treibt sich der 'echte' Jean-Claude Romand in Cafés oder Hotels herum, während seine Umwelt ihn bei der Arbeit oder auf Geschäftsreise vermutet. Doch irgendwann bröckelt die Fassade, seine Umwelt beginnt Fragen zu stellen, und Romands Doppelleben droht aufzufliegen. Vor Romand tut sich der Abgrund auf, Unfähig diesen Gedanken zu ertragen, tötet er zunächst seine Frau und seine Kinder, dann seine Eltern. Die Ermordung seiner Geliebten sowie sein Selbstmord misslingen, so dass er sich am Ende vor Gericht für seine Taten verantworten muss. Emmanuel Carrère begleitet ihn vor und nach dem Prozess und versucht durch die Verarbeitung von Romands authentischer Geschichte zu einem Buch die Motive seiner Handlungen aufzuzeigen.

Eine der Stärken des Bandes besteht darin, dass der Autor möglichst viele unterschiedliche Perspektiven (die seines besten Freundes, der freiwilligen Helfer für die Gefängnisbetreuung,…) in die Geschichte mit einfließen zu lassen. Dies bietet dem Leser die Möglichkeit, sich ein umfassenderes und objektiveres Bild von Romand zu machen.

Gelungen ist der Spannungsaufbau. Denn der Leser wird zunächst mit der Katastrophe, also dem tödlichen Ergebnis des Doppellebens konfrontiert und erfährt erst im Laufe des Buches von möglichen Motiven und Erklärungsversuchen. Doch genau diese erweisen sich als Schwachpunkte, denn es gibt sicherlich viele Menschen mit Problemen in der Kindheitsentwicklung, die denen Romands durchaus vergleichbar waren und deren Vita dennoch einen freidfertigeren Verlauf genommen hat. Was also gab den Ausschlag für seine Mythomanie, die zu dem Aufbau dieses Lügengebäudes führte? Hier wäre die Darstellung weiterer psychiatrischer Gutachten, die Carrère offensichtlich vorlagen, hilfreich gewesen.

Weiterhin wird das weitgehend durch Desinteresse bestimmte Verhalten der Umwelt gegenüber Romand und damit deren Mitschuld an der (Weiter-) Entwicklung dessen Krankheit erwähnt. Nach dem Buch ist vor dem Buch: Auch nach der Lektüre ist es schwierig, den wirklichen Einfluss der Gesellschaft auf das Individuum Romand festzustellen und sich von dessen von Schuld oder Unschuld ein Bild zu machen.

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© Tanja Eisenach, RezenSöhnchen 28 (Juli 2001) & forum-buchkritik